Interview mit EBW-Keynote Speaker Gualtiero Ricciardi

Gualtiero Ricciardi, Keynote Speaker der diesjährigen virtuellen Europe Biobank Week, ist Professor für Hygiene und öffentliche Gesundheit, Direktor der Abteilung für öffentliche Gesundheit und stellvertretender Leiter der medizinischen Fakultät an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Rom. Er hat mehrere beratende Funktionen innerhalb der EU und in internationalen Entscheidungsgremien inne. Er ist Präsident des Mission Board for Cancer der Europäischen Kommission, gewählter Präsident der World Federation of Public Health Associations, italienischer Vertreter im Executive Board der Weltgesundheitsorganisation und wissenschaftlicher Berater des italienischen Gesundheitsministers zur Corona-Pandemie. Im Interview mit dem German Biobank Node (GBN) spricht Gualtiero Ricciardi über seine Sicht auf den Verlauf der Pandemie und warum mehr Aufmerksamkeit für Biobanken gerade in Zeiten von Corona von zentraler Bedeutung ist.

Was sind Ihre Schlussfolgerungen nach mehr als einem halben Jahr der Pandemie-Bekämpfung?

Gualtiero Ricciardi: Die Länder, die 2003 von SARS betroffen waren, haben sich seitdem auf den Fall einer weiteren Pandemie vorbereitet. China, Südkorea, Taiwan, Vietnam - diese Länder haben verstanden, dass angesichts von Covid-19 schnell Maßnahmen ergriffen werden müssen, die insbesondere auf die Eindämmung der Pandemie abzielen. Auch Neuseeland und Australien haben diese Lektion sehr schnell gelernt. In diesen Ländern waren die Auswirkungen der Pandemie während der ersten Welle minimal, während der Rest der Welt einen großen Tribut zahlte. Ich spreche nicht von den Vereinigten Staaten und Brasilien, die von ihren Regierungen beeinflusst wurden, aber auch Europa war weitgehend unvorbereitet. Meiner Meinung nach hat nur Deutschland die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen und es geschafft, die Auswirkungen der ersten Welle zu begrenzen. Aber wenn es um die zweite Welle geht, waren alle europäischen Länder unvorbereitet – und das ist wirklich eine Schande.

Wie wird sich die Pandemie Ihrer Ansicht nach über den Winter entwickeln wird und welche Maßnahmen sollten gegen sie getroffen werden?

Ricciardi: Die meisten europäischen Länder waren zu einem Lockdown gezwungen – vielleicht etwas „leichter“ als zuvor. Sie haben den Kampf um Eindämmung verloren und sich in den Kampf um Linderung begeben. Die Lockdown-Maßnahmen werden sicherlich zu einer Abflachung der Kurve führen, nicht innerhalb von Tagen, aber langfristig. Dann liegt es an uns: Wenn wir die Maßnahmen wieder lockern, wird es eine dritte und eine vierte Welle geben. Dieses Virus wird nicht verschwinden. Es hat sich auf Ausbreitung spezialisiert, es ist ziemlich clever und trickst uns aus. Vor allem führt es die Regierungen an der Nase herum, nicht früher zu handeln. Diese sind dann gezwungen, Maßnahmen zur Linderung zu ergreifen, während sie eigentlich für die Eindämmung hätten kämpfen müssen.

Was halten Sie von der europäischen Zusammenarbeit während der Pandemie?

Ricciardi: Es klafft eine Lücke zwischen der Kooperationsbereitschaft der Europäischen Kommission und der Kommissarin und den von den Mitgliedsstaaten auferlegten Einschränkungen. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten waren eher zurückhaltend gegenüber einer stärkeren Rolle der Kommission und haben sich stattdessen auf Entscheidungen auf nationaler Ebene beschränkt. Wir müssen hier einen Weg für die Zukunft finden – die europäische Zusammenarbeit muss schneller und effektiver werden.

Wie wird sich ein vielleicht bald verfügbarer Impfstoff auswirken?

Ricciardi: Um ehrlich zu sein, würde ich mich freuen, wenn eine solche Ankündigung von den Zulassungsbehörden und nicht von der Presse veröffentlicht würde. Im Moment gibt es keine offiziellen Daten, sondern nur Ankündigungen in den Medien, entsprechend hohe Erwartungen und einen starken Einfluss auf die Börse. Ich hoffe natürlich, dass die Versprechen eingehalten werden. Je früher die Impfstoffe zur Zulassung vorgelegt werden, desto früher wird es möglich sein, dies zu beurteilen.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Biobanking geamacht?

Ricciardi: Wissenschaftler und Forscher verstehen die Bedeutung des Biobankings voll und ganz. Jetzt ist es wichtig, die Bürger darüber zu informieren. Wenn man die Leute auf einer Straße in Berlin fragt, was BBMRI ist, werden sie es höchstwahrscheinlich nicht wissen. Aber wenn man sie fragt, ob sie gerne ein Medikament gegen ihre Krankheit hätten, wird die Antwort sicherlich „ja“ lauten. Es ist notwendig, ihnen zu erklären, dass BBMRI die Voraussetzung dafür ist. Und wir müssen klarer sein, wir müssen besser erklären, warum Biobanking, warum die gemeinsame Nutzung von Proben und Daten so wichtig ist. Gerade im Rahmen dieser Pandemie ist eine aktivere Kommunikationsstrategie entscheidend.

Sind die europäischen Biobanking-Netzwerke "bereit" für diese Pandemie?

Ricciardi: Ja, aber wir müssen in eine nächste Phase gehen. In der Vergangenheit wurden viele europäische Netzwerke und Infrastrukturen „gegründet“. Jetzt müssen sie aufgebaut werden. Das bedeutet, dass wir unsere Anstrengungen intensivieren und zeigen müssen, dass diese Art von Infrastruktur als Grundlage dient, die Bedürfnisse der Bürger zu erfüllen.

 

Die Fragen stellte Verena Huth.

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